Warnleuchte Baustelle Lampe
(Foto: Matthew Hamilton / Unsplash)
22.06.2022
Bauhauptgewerbe

Der Branchenmindestlohn im Bauhauptgewerbe ist Geschichte – zumindest vorerst. Die Arbeitgeber*innen haben nach mehreren Verhandlungsrunden sogar einen Schlichterspruch für eine neue Übereinkunft abgelehnt. Deutlich sichtbar sind aber Risse zwischen den Unternehmen, denn manche haben sich hinterher von der Absage distanziert. Es heißt nun, man sehe noch "Spielräume". Ein trauriges Kapitel in der Tarifgeschichte.
(Anmerkung: Dieser Artikel erschien ursprünglich in der Mai-Ausgabe des Grundstein.)

Schluss. Aus. Vorbei.
Das war es dann mit dem Branchenmindestlohn im Bauhauptgewerbe nach 25 Jahren. Dabei haben die Arbeitgeber*innen nicht einmal einen Vorschlag zur Anpassung der Lohnuntergrenze von uns, der IG BAU, abgelehnt, sondern den Schlichterspruch von Professor Doktor Rainer Schlegel. Also einen Kompromissvorschlag, der selbst uns so manche Bauchschmerzen verursacht hätte. Aber wir hätten damit leben können. Die Abneigung der Arbeitgeber*innen gegenüber dem Branchenmindestlohn, zumindest eines Teils der Unternehmer*innen, muss tief sitzen.

Was war passiert?
Ende vergangenen Jahres ist die letzte Übereinkunft über den Branchenmindestlohn im Bauhauptgewerbe ausgelaufen. Der Mindestlohn I lag bei 12,85 Euro, der Mindestlohn II für Facharbeiter*innen im Tarifgebiet West bei 15,70 Euro. Also wurden schon Anfang Dezember 2021 die ersten Verhandlungen aufgenommen. Schon damals signalisierten die Vertreter*innen des Hauptverbandes der Deutschen Bauindustrie (HDB) und des Zentralverbandes des Deutschen Baugewerbes (ZDB), dass sie den Branchenmindestlohn insgesamt gerne abschaffen wollten. Auf jeden Fall sollte der Mindestlohn II dran glauben. Man trennte sich ergebnislos.

Ende Januar dann der zweite Versuch. Unsere Verhandlungskommission machte mehrere Vorschläge zur Weiterentwicklung der Mindestlöhne, die Bauverbände lehnten sie rundweg ab. Nicht einmal den Vorschlag der IG BAU, die Mindestlöhne in mehreren Schritten perspektivisch zusammenzuführen, griffen die Arbeitgeber*innen auf. Also: Abbruch der Verhandlungen. Bundesvorstandsmitglied und Verhandlungsführer Carsten Burckhardt kommentierte damals: "Das ist unbegreiflich, die Bauarbeitgeber legen die Axt an ein über Jahrzehnte bewährtes Modell. Wenn der Lohn für Facharbeit nicht durch hohe Branchenmindestlöhne geschützt wird, werden Arbeitskräfte zu Dumpingbedingungen eingesetzt. Die Folge: Die Qualität leidet." Der Branchenmindestlohn sorge auch für eine "gute Wettbewerbsregulierung": Er schütze genau die Arbeitgeber*innen, die sich an die Regeln hielten.

Wir schreiben Ende Februar 2022. Jetzt wird die Sache immer dreister. Erst wenn wir uns damit einverstanden erklärten, dass der Mindestlohn II abgeschafft werde, würden sie, die Bauarbeitgeber*innen, überhaupt ein Sümmchen nennen, um das der Mindestlohn I erhöht werden könnte. Da fackelte unsere Tarifkommission nicht mehr lange und erklärte die Verhandlungen für gescheitert. Carsten Burckhardt war hörbar angefressen: "Die Methode 'friss oder stirb' funktioniert bei uns nicht – Verhandlungen gehen anders. Jetzt ist auch Schluss mit 'auf Zeit spielen'. Alle vorgeschlagenen Modelle für fairen Wettbewerb und gegen Lohndumping werden abgelehnt. Jetzt gehen wir in die Schlichtung." Parallel dazu rief die IG BAU alle am Bau Beschäftigten dazu auf, den Betrieb zu wechseln, falls dieser unter dem gültigen Tariflohn zahlt. Lohn-Check war angesagt.

Showdown Ende März, es geht in die Schlichtung. Wieder traten die Bauunternehmen mit nichts an. Das Angebot: Streichung des Mindestlohns II und Erhöhung des Einsers um 15 Cent auf 13 Euro. Ansonsten hieß es immer wieder "nein, nein, nein". Das Verhandlungsniveau hat jetzt ungefähr der Tiefe der Augenringe des 20-stündingen Verhandlungsmarathons entsprochen. Auch für den Schlichter Schlegel, im Hauptberuf Präsident des Bundessozialgerichts in Kassel, deutete jetzt alles darauf hin, dass weitere Verhandlungen keinen Sinn mehr haben. Er fällte einen Spruch: Danach soll der Branchenmindestlohn in diesem, im nächsten und im Jahr 2024 um jeweils 60 Cent erhöht werden, in den Jahren 2025 und 2026 orientiert er sich an der zurückliegenden Teuerungsrate. Danach wiederum soll die unterste Lohngrenze in Abhängigkeit zur zwischen den Tarifparteien ausgehandelten tariflichen Ecklohngruppe angepasst werden. Der Mindestlohn II soll zum Ende dieses Jahres auslaufen. 

Mit unseren Stimmen wurde dieser Kompromiss verabschiedet. "Sicherlich haben wir auch Bauchschmerzen bei dem erzielten Kompromiss, unsere Vorstellungen liegen woanders. Aber wir kommen unserer gesamtgesellschaftlichen Verantwortung nach. Die Abschaffung des Branchenmindestlohnes wäre für die Baubranche mit den großen Aufgaben, die vor ihr liegen bei gleichzeitig hohem Fachkräftebedarf, fatal", kommentierte IG BAU-Chef und Verhandlungsführer während der Schlichtung, Robert Feiger. Und er warf in diesem Zusammenhang seinen Blick auf die Pflegebranche, die ebenfalls händeringend auf der Suche nach Fachkräften ist. Hier habe schließlich der Gesetzgeber sogar drei Mindestlöhne eingeführt. "Der Branchenmindestlohn war, ist und bleibt ein Erfolgsmodell", ist sich Feiger sicher.

Und die Arbeitgeber*innen?
Ihre Reaktion auf den Schlichterspruch: "Das Volumen ist gemessen an dem Abschluss für die höheren Entgelte vom November 2021 sehr hoch und unterstellt eine gleichbleibende Inflation über drei Jahre. Angesichts der aktuell unsicheren wirtschaftlichen Lage erscheint die Laufzeit zu lang und zudem beschränkt die schuldrechtliche Anpassungsvereinbarung die Tarifautonomie." Wie eine gemeinsam von Arbeitgebern und Arbeitnehmern ausgehandelte Vereinbarung die "Tarifautonomie" beschränken kann, bleibt nicht nur für die IG BAU ein Rätsel.

Wie erwartet, stimmte schon kurze Zeit später auch die Bundestarifkommission der IG BAU dem Schlichterspruch zu, die Branchenverbände der Bauwirtschaft lehnten ab. "Zum einen stellt die vorgeschlagene Erhöhung eine nicht zu rechtfertigende Verteuerung einfachster Tätigkeiten im Baugewerbe dar. Zum anderen blickt die Baubranche in Folge des Ukraine-Kriegs besorgt in die Zukunft; die aktuelle Preis- und allgemeine wirtschaftliche Entwicklung lassen wenig Spielraum zu, verlässliche Prognosen sind derzeit nicht möglich", heißt es in einer Verlautbarung. Jutta Beeke, HDB-Vizepräsidentin und Verhandlungsführerin der Arbeitgeberseite, räumte jetzt aber ein, dass die automatische Koppelung des Branchenmindestlohns an die Inflationsrate und dann an den Ecklohn nur noch eine "zu große Selbstbeschränkung freier Tarifverhandlungen" darstelle. Hinzu komme, dass der Schiedsspruch keine ausdrückliche Kündigungsmöglichkeit vorsehe. Uwe Nostitz, Vizepräsident des ZDB, ergänzte: "Eine vernünftige Tarifpolitik muss auf die momentan unüberschaubare Branchensituation Rücksicht nehmen, vorsichtig vorausschauend agieren und Planungssicherheit geben. Wir werden die Festlegung der Höhe eines eigenständigen Bau-Mindestlohns weder dem Gesetzgeber noch dem Zufall überlassen." Mal sehen …

Die Arbeitgeberseite signalisiert jetzt aber, dass sie offen für weitere Verhandlungen ist. "Auch wenn ein Branchenmindestlohn nach momentaner Arbeitsmarktlage nicht zwingend kurzfristig nötig erscheint, ist weiterhin die Bereitschaft vorhanden, einen einheitlichen Baumindestlohn zu verabreden." Die Beratungen des Schiedsspruchs in den Gremien hätten "auch Spielräume aufgezeigt". Interessant ist hierzu, was nur kurze Zeit später auf der Homepage des Bauindustrieverbandes Bayern zu lesen ist. Hauptgeschäftsführer Thomas Schmid zeigt sich "enttäuscht" über die Ablehnung. Seine Mitgliedsunternehmen hätten die "massiven Lohnkostensteigerungen" akzeptiert. "Ihnen geht es jetzt um Ruhe und Berechenbarkeit auf der Lohnseite. Sie wollen mit voller Kraft die anstehenden drängenden Bauaufgaben erledigen. Gemeinsam mit ihren Beschäftigten, und nicht gegen ihre verständlichen Interessen." Und beim Landesverband Niedersachsen-Bremen heißt es: "Die Mitglieder des Verbandes akzeptieren einen deutlich über dem gesetzlichen Mindestlohn liegenden Baumindestlohn." Man spreche sich für die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit dem Ziel, im Rahmen der Tarifautonomie zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung zu kommen, aus. Was immer das auch heißen mag. 

Text: Frank Tekkiliç

Stimmen aus der Verhandlungskommission

Jörg Oehmigen, Betriebsratsvorsitzender bei Diringer & Scheidel in Dessau/Leipzig (Sachsen) und Mitglied der Verhandlungskommission:

Mit ihrer Ablehnung haben die Arbeitgeberge zeigt, wieviel Respekt und Wertschätzung sie denBeschäftigten entgegenbringen: Null und nochmal Null. Mit einem Federstrich haben sie ihr langverfolgtes Ziel der Abschaffung des Mindestlohns II im Tarifgebiet West erreicht und sich obendrein noch des Mindestlohns I der Baubranche entledigt. Man kann davon ausgehen, dass sich dasLohnniveau nun massiv in Richtung des gesetzlichen Mindestlohns entwickeln wird. Die Arbeitgeber haben damit auch den Sinn des Schlichtungsabkommens für das Baugewerbe in Frage gestellt. UnsereBundestarifkommission und die Bundesfachgruppe Bauhauptgewerbe der IG BAU haben dazu jetzt eineDiskussion angeregt. Ich kann nur jede*n dazu aufrufen, sich an den unterschiedlichen Formaten aktiv zu beteiligen und die eigenen Ideen und Anregungen einzubringen. Wir müssen unsere Kräfte bündeln, um Mächtigkeit zu entwickeln und Wege zu finden, die Arbeitgeber zu fairen Abschlüssen amVerhandlungstisch zu zwingen!

Katrin Reif-Krauß, Betriebsrätin bei Max Bögl in Sengenthal (Bayern) und Mitglied der Verhandlungskommission:

Ich verstehe nicht, warum die Arbeitgeber im Angesicht des Fachkräftemangels einen Dumpingwettbewerb anfachen. Gute Leute bekommt man nur für gutes Geld! Wenn wir uns in Richtung des gesetzlichen Mindestlohns bewegen, dann wird sich das auch in der Qualität widerspiegeln. Dass die Arbeitgeber den Ukraine-Krieg und seine unabsehbaren Folgen als eine Begründung für die Ablehnung des Schlichterspruchs heranziehen, halte ich für regelrecht leichtsinnig! Damit verunsichern sie die Beschäftigten und werden weitere Fachkräfte aus unserer Branche vertreiben. Auch zu Beginn der Corona-Pandemie gab es Panikmache durch die Arbeitgeber, aber Corona hat der Bauwirtschaft keineswegs geschadet, die Auftragsbücher sind voll wie nie. Mir geht es nun vor allem darum, die Kolleginnen und Kollegen zu informieren, sodass sie aus den betreffenden Lohngruppen möglichst rauskommen. Die Baubeschäftigten sollten sich darüber klar sein, was sie wert sind. Die Arbeitgeber sind es, die die Fachkräfte brauchen. Entsprechend selbstbewusst können wir auftreten!

Hans-Jürgen Leidal, Betriebsratsvorsitzender SAX + KLEE GMBH in Mannheim (Baden-Württemberg) und Mitglied der  Verhandlungskommission:

Nach den Worten des Verhandlungsführers der Arbeitgeber im Bauhandwerk brauche man in der heutigen Zeit keine Tariflöhne mehr, da die Beschäftigten am längeren Hebel säßen und ihre Lohnforderungen jede*r für sich vortragen könnten. Was für ein Quatsch! Denn jede*r weiß, dass sich der oder die Einzelne nie gegen einen Arbeitgeber durchsetzen kann. Die Baubeschäftigten werden künftig bei Neueinstellungen zu niedrig eingruppiert werden. Und jeder Euro, der in der Stunde zu wenig bezahlt wird, zieht ein riesiges finanzielles Loch nach sich. Die Auftragsbücher sind gefüllt wie nie in den letzten Jahren, Arbeitskräfte werden händeringend gesucht – und trotzdem schlägt man ihnen ins Gesicht. Mittel- und langfristig werden Bauunternehmen schließen müssen, weil sie keine Arbeitskräfte mehr bekommen. Dieses unsägliche Verhalten der Arbeitgeber ist unerklärlich. Es ist unerlässlich, dass sich die Arbeitnehmerschaft wieder solidarisiert und etwas gegen den Abbau der sozialen Standards unternimmt!