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10 Jahre gesetzlicher Mindestlohn: Orientierung nach oben oder letzter Strohhalm?
Der Bau als Vorreiter
Zuerst etwas Eigenlob: Beim Mindestlohn hat die IG BAU Pionierarbeit geleistet. Bereits im Jahr 1996 konnten wir im Bauhauptgewerbe einen eigenen Branchenmindestlohn durchsetzen. Anders als beim gesetzlichen Mindestlohn, der von einer ständigen Kommission der Tarifpartner (Mindestlohnkommission) überprüft und durch eine Rechtsverordnung der Bundesregierung geändert werden kann, gilt hier: Der Staat hält sich raus. Die Höhe der Branchenmindestlöhne wird direkt zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern verhandelt. Später kann der Tarifvertrag vom Bundesministerium für Arbeit- und Soziales (BMAS) für allgemeinverbindlich erklärt werden. Die Mindestlöhne gelten dann für alle Unternehmen und Betriebe einer Branche, auch wenn diese nicht tarifgebunden sind. Bereits zu seiner Einführung im Jahr 1997, also 17 Jahre vor Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, lag der Branchenmindestlohn nur knapp unter den anfänglichen 8,50 Euro (8,18 Euro im Tarifgebiet West und 7,74 Euro im Tarifgebiet Ost). Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2014 betrug der Branchen-Mindestlohn im Bauhauptgewerbe dann bereits je nach Tarifgebiet zwischen 10,50 Euro und 13,80 Euro.
Stütze gegen Sozialdumping
Gerade für die Bau-Beschäftigten, die nicht unter einen Tarifvertrag fielen, war der Branchenmindestlohn wichtig. Stichwort: Entsendung. Anfang der 1990er-Jahre hatte der Bau mit einer Niedriglohnkonkurrenz und einer florierenden Schattenwirtschaft zu kämpfen. Insbesondere die im Baugewerbe vorherrschende Praxis, Bauaufträge an ausländische Unternehmen zu vergeben. Diese arbeiten oft mit nach Deutschland entsandten Personen und das zu den Bedingungen des Heimatlandes. Tarifstandards wurden in einigen Gewerken schlichtweg untergraben, was nicht nur den Arbeitnehmer*innen, sondern auch der heimischen Wirtschaft schadet. Hier war die Einführung der Branchenmindestlöhne das letzte Stoppzeichen im Rennen um die billigsten Arbeitskräfte. Eine Funktion, die der gesetzliche Mindestlohn inzwischen für viele weitere Branchen einnimmt. Zur Wahrheit gehört auch: Der Bau gehört mittlerweile dazu.
Das falsche Argument
Im Jahr 2022 haben die Bau-Arbeitgeber*innen den Branchenmindestlohn mit ihrem umstrittenen Nein zum Schlichterspruch abgeschafft. Es war auch ein Nein zu bindenden tariflichen Standards und einem Zukunftsbekenntnis gegenüber der Branche. Der gesetzliche Mindestlohn wurde hier bewusst als Argument zur Abschaffung eines Branchenmindestlohns missbraucht. Erklärtes Ziel des gesetzlichen Mindestlohnes ist der Schutz vor unangemessen niedrigen Löhnen. Er darf nicht zum Lohnstandard einer Branche mit all ihren unterschiedlichen Gewerken und Qualifikationsniveaus werden. Insbesondere dann nicht, wenn diese Branchen wie keine zweite durch ein branchenspezifisches Regulierungssystem mit der Einrichtung von tariflich vereinbarten Sozialkassen strukturiert wird. Nur ein Branchenmindestlohn fördert den fairen Wettbewerb am Bau. Er sichert insbesondere die Konkurrenzfähigkeit der tariftreuen Unternehmen. Mit dem Wegfall des Branchemindestlohns bleibt nur noch der gesetzliche Mindestlohn und damit eine klaffende Gehaltslücke zu den starken Tariflöhnen im Bauhauptgewerbe. Zur besseren Einordnung: Der Ecklohn, also das Grundgehalt nach Tarif, beträgt im Westen aktuell 22,73 Euro, im Osten 22,25 Euro.
Abstand halten!
Für die IG BAU ist klar: Ein staatliches "Lohnsignal" durch Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohnes ist auch Basis für die Entwicklung der Branchenmindestlöhne. Er bietet die Möglichkeit, den Wert von Arbeit neu zu definieren. Das gilt im besonderen Maße für das Gebäudereiniger-Handwerk. Der Branchenmindestlohn beträgt hier derzeit 13,50 Euro und liegt damit knapp über dem aktuellen gültigen gesetzlichen Mindestlohn von 12,41 Euro (Stand: September 2024). 16,50 Euro mindestens fordern die Reinigungskräfte in der aktuell laufenden Tarifrunde 2024. Unterstützung erhalten sie dabei auch aus Brüssel. Die Bundesregierung muss zum November 2024 die EU-Mindestlohnrichtlinie in nationales Recht umsetzen. Diese nennt konkrete Vorgaben für die Ausgestaltung von Mindestlöhnen, nämlich 60 Prozent vom Medianlohn im jeweiligen Land oder 50 Prozent vom Durchschnittslohn. Umgerechnet ergibt das für das Jahr 2025 nach Zahlen des Deutschen Gewerkschaftsbundes 14,83 Euro, ein Jahr später 15,27 Euro. Weil die unterste Lohngrenze in der Gebäudereinigung üblicherweise einen Euro über dem gesetzlichen Mindestlohn liegt, ist die Richtlinie damit ein klares Zeichen für die berechtigte Lohnforderung der Gebäudereinigung und Signal an die Arbeitgeberverbände, endlich tätig zu werden.
Mindestlohn = Mindestlohn?
Entscheidend ist, ob der Mindestlohn auch tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt. Denn längst nicht überall wird das Lohnlimit eingehalten. Besonders anfällig für Mindestlohnbetrug ist die Saisonarbeit auf den Feldern. Typische Ausbeutungspraktiken sind hier entweder das Prellen des Mindestlohnes oder der Abzug der Kosten für die Bereitstellung von Unterkunft und Verpflegung. Beides ist nicht zuletzt durch die europäische Gesetzgebung verboten, doch eine Vielzahl von Sonderregelungen in der Saisonarbeit machen diese Ausbeutung legal. Zudem wird der Lohn erst kurz vor der Abreise ausbezahlt, so dass eine umfassende Kontrolle kaum möglich ist. Dem Bericht zur Saisonarbeit 2023 ist ein Fall zu entnehmen, der stellvertretend für die gesamte Branche steht. Es wird über einen bei der Zwiebelernte eingesetzten Arbeiter berichtet, dem es in 13 Stunden nicht gelang, ausreichend Erntekisten zu befüllen. Grund hierfür war die schlechte Qualität der Zwiebeln. Am Ende erhält er für die Akkordarbeit einen Stundenlohn von etwa sieben Euro. Ein massiver Verstoß gegen das Mindestlohngesetz.
Wann kommt die Kontrolle?
Im Jahr 2022 wurde in der Saisonarbeit in nur 63 Fällen ein Ordnungswidrigkeitsverfahren wegen Verstößen gegen das Mindestlohngesetz eingeleitet. Auch andere Branchen müssen nur selten mit einem Besuch der Finanzkontrolle Schwarzarbeit rechnen: Nach einer Auswertung des Pestel-Instituts auf Baustellen beispielsweise nur etwa alle 20 Jahre, in der Gebäudereinigung statistisch nur alle 15 Jahre. Mit den vorhandenen Personal-Kapazitäten kann eine effektive Mindestlohnkontrolle nicht klappen, erst recht nicht, wenn sich der Kreis der Mindestlohnempfänger*innen stetig vergrößert. Aus Sicht der IG BAU ist es nötig, die Zahl der eingesetzten Beamt*innen zu verdoppeln.
Rückblick
Zehn Jahre nach Einführung hat der gesetzliche Mindestlohns einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, prekäre Beschäftigung zu bekämpfen und bei der Bezahlung im Niedriglohnsektor eine Lohnuntergrenze einzuziehen. Seine Wirkung kann er dauerhaft jedoch nur entfalten, wenn er mit gezielten und noch häufigeren Kontrollen flankiert wird.
Zusätzlich bietet der Mindestlohn uns als Gewerkschaft eine Argumentation zur Anhebung der Branchenmindestlöhne und der
Tariflöhne. Dennoch muss es das Ziel aller Beteiligten sein, insbesondere der Arbeitgeberverbände, dass mehr Tariflohn und weniger Mindestlohn bezahlt wird. Dies trägt erheblich zur Attraktivität der Branchen bei und macht Unternehmen konkurrenzfähig in unsteten Zeiten.
Text: Tobias Wark
Der Beitrag ist ursprünglich in der Oktober-Ausgabe unseres Mitgliedermagazins "Der Grundstein" erschienen.