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Am 9. Juni wählt Europa: Was hat das mit Dir zu tun?

Europa-Fahne mit Logos der IG BAU Branchen statt Sternen
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zplusz

03.06.2024
Internationales

Europäische Union (EU), Europa oder auch "die in Brüssel" – europäische Politik scheint oft fern und undurchsichtig. Die EU hat uns die Glühbirne und den Verbrenner weggenommen oder schreibt uns die Krümmung von Gurken vor, heißt es dann. Ebenso werden in regelmäßigen Abständen "Bürokratiemonster" erschaffen und auf die Bürgerinnen und Bürger losgelassen. Gerade weil die politischen Entscheidungsprozesse auf europäischer Ebene langwierig und mitunter kompliziert sind – immerhin versuchen hier 27 Mitgliedsstaaten auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen – werden die Ergebnisse oft gar nicht, bewusst verkürzt oder negativ dargestellt.

Schauen wir einmal genauer hin, denn viele Errungenschaften der Europäischen Union – gerade im Arbeitsleben – nehmen wir längst als gegeben hin. Was haben die anstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament eigentlich mit meinem Arbeitsalltag in Deutschland zu tun? Auf Brüssel schimpfen ist einfach. Zu einfach. Nur wenn wir verstehen, wo uns Europa im Alltag begegnet und wie Entscheidungen getroffen werden, können wir uns als Gewerkschaft aktiv einbringen und für bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen streiten.

Europa im Portemonnaie

Die europäische Gesetzgebung schreibt vor, dass Mindestlöhne vor Armut schützen müssen. Im Klartext: Ein Mindestlohn muss zum Leben ohne Armut reichen. Und es geht noch weiter: Die Tarifbindung in den Mitgliedsländern muss bei mindestens 80 Prozent liegen. Nur 51 Prozent der Beschäftigten in Deutschland waren zwischen 2017 und 2022 in einem tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Damit rangiert Deutschland europaweit auf dem 14. Platz und muss nachbessern. Ein klares Signal an die Ampel-Regierung endlich Tempo bei der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von bestehenden Tarifverträgen und der Tariftreueregelungen bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen zu machen.

Arbeitszeit, Arbeitszeiterfassung und Mutterschutz

Viele deutsche Bundesgesetze haben ihren Ursprung in einer Europäischen Richtlinie oder einem Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Letzterer urteilt immer dann, wenn ein Land gegen gültiges EU-Recht verstößt. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch: In der November-Ausgabe des Grundsteins 2023 haben wir über einen Berliner Maurer berichtet, der seine Arbeitszeit per App festhält. Hintergrund ist ein Urteil, das Unternehmen dazu verpflichtet, ein verlässliches System zur Arbeitszeiterfassung in den Betrieben zu schaffen. Gut so, denn Überstunden und ausgefallene Pause- und Ruhezeiten führen zu berufsbedingten Erkrankungen und Arbeitsunfällen. Deshalb deckelt die EU Eure maximale Wochenarbeitszeit auf 48 Stunden bei einer 11-stündigen Mindestruhezeit pro Tag. Ebenso geregelt sind der Anspruch auf Pausen spätestens nach sechs Stunden und der Anspruch auf bezahlten Urlaub von vier Wochen im Jahr.

Mehr Rechte gibt es auch für Schwangere beim sogenannten Mutterschaftsurlaub. Eine irreführende Wortschöpfung, denn von "Urlaub" kann hier wohl keine Rede sein. Das sah der Europäische Gerichtshof ähnlich und entschied: Fallen Mutterschaftsurlaub und Urlaub zusammen – etwa in den Betriebsferien – dann geht der Mutterschaftsurlaub vor. Der reguläre Urlaub kann dann auch in einer anderen Zeit genommen werden und verfällt nicht.

Europäische Grenzwerte retten Leben am Arbeitsplatz

Stemmen, meißeln, Putz abschlagen – bei vielen Arbeiten auf dem Bau wird Staub erzeugt. Staub, der krebserregende Stoffe wie Asbest freisetzen kann. Asbest in den Lungen kann Asbestose verursachen – die führt zu Lungenkrebs und ist jährlich für rund 88 000 Todesfälle in der Europäischen Union verantwortlich. Im Oktober vergangenen Jahres haben die EU-Institutionen die Überarbeitung der Asbest-Verordnung von 2009 beschlossen. Darin festgeschrieben ist auch eine Forderung der IG BAU: Betriebe müssen eine obligatorische Asbestuntersuchung des Gebäudes in Auftrag geben. Das Ergebnis muss hier vor Beginn der Arbeiten vorliegen. Die Art der Kontamination, der genaue Standort und die geschätzten Mengen sind dabei genau zu beschreiben.

Dein Lohn im Ausland – unser Kampf für gleichen Lohn am gleichen Ort

Wenn Dein Chef oder Deine Chefin Dich für eine Tätigkeit zeitweise in ein anderes EU-Land entsendet, um dort einen Auftrag zu erfüllen, gilt: Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Wenn in dem anderen Land besser bezahlt wird, dann gelten die höheren Mindest- oder Tariflöhne auch für Dich. Doch das war nicht immer so. Eine mangelhafte EU-Gesetzgebung ermöglichte es, Arbeits-, Sozial- und Tarifstandards in einigen Sektoren schlichtweg zu untergraben. Gearbeitet wurde dann beispielsweise in Deutschland zu rumänischem Mindestlohn und ohne Sozialversicherung. Leidtragende waren in erster Linie die Kolleg*innen aus dem Ausland, die in einem undurchsichtigen Geflecht aus Subunternehmerketten besonders anfällig für Ausbeutung waren. Der freie Warenverkehr – eine der Grundfreiheiten der Europäischen Union – wurde hier einfach auf die Arbeitnehmerfreizügigkeit übertragen. Menschen sind aber keine Ware! Es braucht klare Regeln und die Einhaltung nationaler Tarifgesetze, denn auch die heimische Wirtschaft hatte enorm mit der Niedriglohnkonkurrenz und einer florierenden Schattenwirtschaft nach der EU-Osterweiterung zu kämpfen.

Die Überarbeitung der sogenannten Entsenderichtlinie wurde von der IG BAU eng begleitet. Ob bei Anhörungen der Fachausschüsse im Europäischen Parlament, dem Einbringen von Änderungsanträgen oder der Übersendung von Stellungnahmen an die Europäische Kommission oder an die zuständigen nationalen Ministerien – wir als IG BAU nutzen jede Möglichkeit, die sich bietet, um die Perspektive unserer Branchen einzubringen. Es zeigt auch: Wir sind längst nicht mit allen Entwicklungen auf europäischer Ebene einverstanden. Aber wir haben eine Wahl und können ein Europa mitgestalten, das Betrieben eine Zukunft gibt und Beschäftigte schützt.

Text: Tobias Wark
Der Artikel ist ursprünglich in der März-Ausgabe des Grundstein erschienen.