
Ob beim Neubau von Schienentrassen, Schulen oder Autobahnen – für Aufträge vom Bund wird jedes Jahr ein dreistelliger Milliardenbetrag bereitgestellt. Nur bei 12,7 Prozent der Bundesaufträge spielen soziale oder ökologische Kriterien überhaupt eine Rolle. Genau hier setzt das Tariftreuegesetz an: Geld vom Staat soll es nur geben, wenn tarifliche Standards bei Bundesaufträgen eingehalten werden. Unter Tariftreue-Regelungen versteht man die Verpflichtung von Unternehmen, bei öffentlichen Aufträgen Tariflöhne zu zahlen und tarifvertragliche Arbeitsbedingungen einzuhalten – unabhängig davon, ob sie selbst tarifgebunden sind oder nicht.
Blickpunkt Bau
Um es klar zu sagen: Ob die Bauarbeiter beim Bau eines öffentlichen Gebäudes zu den Bedingungen eines Tarifvertrages arbeiten, ist in der Ausschreibung aktuell Nebensache. Doch gerade das Bauhauptgewerbe wäre Profiteur eines Tariftreuegesetzes. Weil es aktuell keine allgemeinverbindlichen Branchenmindestlöhne gibt, greift für Tätigkeiten der untersten Lohngruppe bei der Vergabe nur der gesetzliche Mindestlohn. Und das wird zunehmend ein Problem. Im Bauhauptgewerbe, besonders im Hochbau, ist der Anteil von Hilfskräften stark gestiegen. Gleichzeitig sinkt aufgrund des technologischen Fortschritts eigentlich der Bedarf an einfachen Helfertätigkeiten, wie dem Anrühren von Mörtel beispielsweise. Die Einstufung qualifizierter Fachkräfte als einfache Helfer dient hier dazu, den niedrigeren, gesetzlichen Mindestlohn anstatt den Lohn eines Facharbeiters zu zahlen. Hier hätte ein Tariftreuegesetz direkten Einfluss auf die Löhne: Tariflohn für Helfertätigkeiten statt Mindestlohn. Zudem würde mehr Transparenz in der Kalkulation öffentlicher Bauvorhaben entstehen: Wenn ein Unternehmen für ein Großprojekt auffällig viele "Helfer" einsetzt, wäre das künftig erklärungsbedürftig.
Tarifflucht zulasten aller
Offiziell gilt bei öffentlichen Vergaben: Der Zuschlag geht an das wirtschaftlichste Angebot – also an das mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis. In der Praxis aber zählt meist der billigste Preis. Leidtragende sind jene Unternehmen, die Tariflöhne zahlen und damit höhere Personalkosten haben. Aufträge des Bundes sind hier keine Ausnahme. Doch damit schadet sich der Staat letztlich selbst: Tarifflucht, Lohndumping, sinkende Steuereinnahmen, weniger Sozialbeiträge, geringere Kaufkraft. Der volkswirtschaftliche Schaden? Rund 123 Milliarden Euro jährlich.
Durch eine mangelnde Tarifbindung nehmen Bund, Länder und Kommunen circa 24 Milliarden Euro weniger Einkommensteuer ein. Geld das dringend benötigt wird. Verzichtet der Bund auf ordentliche Tarifverträge, muss im Gegenzug weiterhin mit knappen Kassen gerechnet werden.
Bund hinkt hinterher
Dabei gelten in den meisten Bundesländern mit Ausnahme von Bayern und Sachsen bereits heute Tariftreuegesetze. Das Saarland schreibt beispielsweise die wesentlichen Kernarbeitsbedingungen des jeweiligen branchenspezifischen Tarifvertrages vor. Daran will sich auch Hessen orientieren. Und auch viele Kommunen haben heute schon die Möglichkeit, Tariftreue bei öffentlichen Ausschreibungen zur Vergabebedingung zu machen.
Deutschland unter Zugzwang
Die deutsche Tarifflucht ruft inzwischen auch die Europäische Kommission auf den Plan. Nur 49 Prozent aller Beschäftigten in Deutschland waren im Jahr 2024 in einem tarifgebundenen Betrieb beschäftigt. Da Deutschland damit den Schwellenwert von 80 Prozent Tarifbindung nicht erreicht, muss die Bundesregierung bis zum Jahresende einen "Nationalen Aktionsplan zur Förderung von Tarifverhandlungen" vorlegen. Ein gewichtiger Teil davon: das Bundestariftreuegesetz. Dazu ein kleines Rechenspiel: Würde man die Tarifbindung von aktuell 49 Prozent auf 80 Prozent erhöhen, bedeutet dies 34,71 Milliarden Euro mehr Einkommen für die Beschäftigten, 14,54 Milliarden Euro mehr Steuereinnahmen und 24,82 Milliarden Euro mehr Beiträge zur Sozialversicherung.
Gelingt die Tarifwende?
Doch der Gesetzentwurf hat Lücken: Erst ab einem geschätzten Auftragswert von 50 000 Euro soll ein Tarifvertrag zur Bedingung für die Ausschreibung werden. Dieser Wert ist viel zu hoch angesetzt. Im Baubereich würden fast ein Viertel der jährlich 22 000 Bundesaufträge gar nicht erfasst.
Damit das Gesetz nicht ins Leere läuft, müssen auch die tarifvertraglichen Arbeitsbedingungen ab dem ersten Tag gelten. Denn Tarifverträge regeln mehr als Lohn und Gehalt. Dass Höchstarbeitszeiten und Mindesturlaub laut Gesetzentwurf erst bei Aufträgen über zwei Monate greifen sollen, ist inakzeptabel.
Hinzu kommt: Kontrollen sollen laut Entwurf nur anlassbezogen st attfinden. Notwendig ist jedoch einstichprobenartiges Kontrollverfahren.Die Erfahrungen der IG BAU zeigen: Nur ein kontinuierlicher Kontrolldruck sorgt dafür, dass Auftragnehmer ihre Tariftreueverpflichtung auch wirklich einhalten.
Tauziehen im Bundestag
Als Arbeitsministerin Bärbel Bas die Debatte zum Bundestariftreuegesetz am 10. Oktober eröffnete, klang der Auftakt noch harmonisch. Sie sprach von "Investitionen in Kitas, Schulen, Krankenhäuser und Klimaschutz", von moderner Infrastruktur und öffentlicher Verantwortung, die fair bezahlt werden müsse. Tarifverträge seien "wie ein Stoßdämpfer zwischen Beschäftigten und Unternehmen. Ohne sie wird es holprig in der sozialen Marktwirtschaft", so die Arbeitsministerin.
Nach wenigen Redebeiträgen war klar, wie tief die Gräben verlaufen. Die AfD attackierte das Gesetz erwartungsgemäß als "Bürokratiemonster". Neue Meldepflichten, Haftungsfragen und Kontrollauflagen seien ein "Anschlag auf die Freiheit des Unternehmers".
Dieser Argumentationslinie schloss sich die CDU/CSU-Fraktion in Teilen an. Der Mittelstand wünsche sich "mehr Spielraum und weniger Verwaltungslasten" so Peter Aumer (CDU/CSU). Auch Nora Seitz (CDU/CSU) wollte die Abgeordneten in die "Perspektive der kleinen und mittelständischen Unternehmen sowie des Handwerks mitnehmen". "Aufwand und Nutzen" des Gesetzes stünden "in keinem vernünftigen Verhältnis, gerade für die kleinen Betriebe" so Seitz. Und auch Parteikollegin Sandra Carstensen (CDU/CSU) wünsche sich zwar eine höhere Tarifbindung, aber "ohne den Mittelstand zu überfordern".
Was die rührselige Rhetorik vom kleinen Handwerker bewusst unterschlägt: Durch die verpflichtende Einhaltung tariflicher Arbeitsbedingungen bei öffentlichen Aufträgen wird ein fairer Marktzugang für tarifgebundene kleine und mittlere Unternehmen gewährleistet, die sonst gegenüber billigeren, aber oft nicht tarifgebundenen Wettbewerbern benachteiligt wären.
Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen) bemühte sich den Fokus der Debatte wieder auf die eigentlich Betroffenen zu richten: Menschen, "die, ob in der Industrie oder im Dienstleistungssektor, unser Land am Leben halten". Ein wirksames Tariftreuegesetz brauche "Kontrollen, die stichprobenartig stattfinden, die unangekündigt stattfinden". Auch Pascal Meiser (Die Linke) appellierte an die Bundesregierung das Gesetz nicht in seiner jetzigen Form zu belassen: "Lassen sie nicht sehenden Auges zu, dass dieses Gesetz durch Leiharbeit und windige Subunternehmen umgangen wird, bloß weil für diese keinerlei Dokumentationspflichten vorgesehen sind!"
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Fünf Tage später, am 15. Oktober, zeigte sich erneut: Das Ziel – faire Vergaben und mehr Tarifbindung – wird von vielen geteilt, der Weg dorthin bleibt aber umstritten. Im Mittelpunkt der Vergabetagung stand SPD-Abgeordneter Jan Dieren, Berichterstatter seiner Fraktion für das Gesetz, an das sich Hoffnung und Kritik gleichermaßen richteten.
Die IG BAU machte sofort deutlich, worum es geht: "Wer öffentliche Aufträge bekommt, muss Tariflohn zahlen – Punkt." Für die Gewerkschaft ist das keine Frage von Bürokratie, sondern von Gerechtigkeit. "Tarifähnliche Bedingungen" reichen nicht. Wer Steuergeld will, muss sich zu Tarifverträgen bekennen oder draußen bleiben. Nur so lasse sich verhindern, dass der Staat selbst zum Förderer von Lohndumping wird. Auch bei den Kontrollmechanismen wurde die IG BAU konkret: Es braucht die digitale Arbeitszeiterfassung und einen echten Nachweis über die Anwendung eines Tarifvertrags. Außerdem seien die Subunternehmerketten auf maximal zwei Glieder zu begrenzen, damit die Verantwortlichkeit nachvollziehbar bleibt und nicht irgendwo in der Baugrube versickert.
Dr. Burkhard Siebert, Hauptgeschäftsführer Bauindustrieverband Hessen-Thüringen, argumentierte vorsichtiger, aber nicht ablehnend. Auch er forderte klare Regeln, die seriöse Betriebe nicht bestrafen – praxistauglich und ohne Überbürokratisierung.

SPD-Berichterstatter Dieren wiederum bleibt zwischen zwei Realitäten gefangen. Einerseits ist er der Gewerkschaft nahe und weiß, dass Tarifbindung das Gebot der Stunde ist. Andererseits ist die SPD-Fraktion nur noch mit 120 von insgesamt 630 Sitzen im Bundestag vertreten und mit einem Regierungspartner konfrontiert, der weitergehende Regelungen abwehrt. In dieser Zwickmühle blieb Dieren defensiv: Er lobte das gemeinsame Ziel, verwies auf "europarechtliche Grenzen" und betonte die "Notwendigkeit von Kompromissen in der Koalition". Er will Verbesserungen erreichen, kann aber nur so weit gehen, wie es der Regierungspartner zulässt.
Fazit
Was ist also von einer möglichen Abstimmung im Dezember zu erwarten? Umfangreiche Nachbesserungen sind kaum durchsetzbar, die Regierung wird sich auf einen Mindeststandard einigen müssen. Dennoch geht es im Kern um die Sicherung fairer Löhne und verbindlicher Arbeitsbedingungen bei Bundesaufträgen. Selbst in abgespeckter Form kann das Gesetz ein Mittel sein, die Talfahrt bei der Tarifbindung in Deutschland zu stoppen. Wer öffentliche Bundesaufträge will, muss Tarifstandards einhalten.
Text: Tobias Wark
Der Artikel erschien ursprünglich in der November-Ausgabe des Grundstein.

