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Neuer Verteilungsbericht des WSI: Die Ungleichheit in Deutschland wächst

Ein alter Mann bettelt auf der Straße
(Foto: Stepan Konev / Unsplash)
20.11.2025
Arbeit

Eine neue Studie des WSI zeigt: Die Schere zwischen Arm und Reich in Deutschland klafft immer weiter auseinander. Besonders betroffen sind Menschen mit niedrigen Einkommen. Sie verlieren nicht nur finanziell, sondern verlieren auch das Vertrauen in Staat und Demokratie.

Die Zahlen sprechen eine klare Sprache: Seit 2010 ist die Einkommensungleichheit in Deutschland massiv gestiegen. Zwischen 2018 und 2022 hat sich diese Entwicklung noch einmal deutlich beschleunigt. Der Gini-Koeffizient, das wichtigste Maß für Einkommensungleichheit, erreichte 2022 mit 0,310 einen neuen Höchststand – so hoch wie noch nie seit Beginn der Erhebungen 1984. Das zeigt der aktuelle Verteilungsbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung.

Armut nimmt zu, Reichtum bleibt stabil

Die Armutsquote kletterte im selben Zeitraum von 14,4 auf 17,7 Prozent. Noch dramatischer: Strenge Armut (unter 50 Prozent des mittleren Einkommens) stieg von 7,9 auf 11,8 Prozent. Auf der anderen Seite blieb der Anteil einkommensreicher Haushalte weitgehend konstant. Die untere Mittelschicht schrumpft. Und zwar nicht, weil Menschen aus ihr aufsteigen, sondern weil sie in Armut abrutschen.

Hauptgrund für diese Entwicklung: Die ausgleichende Wirkung von Steuern und Sozialtransfers hat seit 2010 abgenommen. Menschen mit niedrigen Einkommen haben von der positiven Wirtschaftsentwicklung der letzten Jahre kaum profitiert – trotz Mindestlohn. Die Krisen seit 2020 treffen sie besonders hart.

Armut befördert Misstrauen

Die Folgen gehen weit über das Portemonnaie hinaus. Je niedriger das Einkommen, desto geringer das Vertrauen in staatliche Institutionen: Fast ein Viertel der Menschen in Armut vertraut etwa der Polizei kaum oder gar nicht, bei Gerichten sind es sogar 32 Prozent, bei öffentlich-rechtlichen Medien und der Bundesregierung mehr als die Hälfte. Auch die Wahlbeteiligung sinkt mit dem Einkommen. Und: wenn sie überhaupt wählen, wählen Menschen in Armut überdurchschnittlich oft Parteien von den Rändern der politischen Landschaft.

"Wenn es eine soziale Marktwirtschaft nicht schafft, ihr Teilhabe- und Fairnessversprechen einzuhalten, ist das hoch problematisch für ihre Akzeptanz – und auch für die Akzeptanz unserer Demokratie", warnt Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI.

Was jetzt zu tun ist

Die Studie empfiehlt drei zentrale Maßnahmen:

  • Gute Erwerbsarbeit stärken: Sozialversicherungspflichtige Jobs mit Tarifvertrag, passgenaue Qualifizierung und bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
  • Materielle Teilhabe sichern: Verlässliche soziale Sicherung statt Nullrunden bei Regelbedarfsleistungen. Keine Vermittlung in prekäre Jobs ohne Perspektive.
  • Vermögen gerechter besteuern: Höherer Spitzensteuersatz, Reform der Abgeltungssteuer, angemessene Besteuerung hoher Erbschaften und Wiedereinführung der Vermögensteuer.

"Mehr Einzelkämpfertum statt Miteinander, neue Hürden für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie durch deregulierte Arbeitszeiten, Abbau sozialer Rechte und sozialer Sicherung, Erleichterungen vor allem für Wohlhabende – das wird die Probleme nicht lösen, sondern verschärfen", betont Kohlrausch. "Stattdessen sollten wir uns auf unsere Stärken besinnen: Tarifverträge, ein tragfähiges soziales Netz und eine leistungsfähige öffentliche Infrastruktur. Und eine fairere Steuerpolitik, die Privilegierungen für sehr hohe Vermögen abbaut. Etwa durch weniger Schlupflöcher für Superreiche bei der Erbschaftsteuer und die Wiedereinführung der Vermögensteuer."

Kurz gesagt: Gute Arbeit, starke soziale Sicherung und verlässliche öffentliche Infrastruktur sind Schlüssel für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Nur sie sichern eine Zukunft, in der jede und jeder dazugehört.

Zur ausführlichen Meldung der Hans-Böckler-Stiftung:
www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-einkommensungleichheit-seit-2018-weiter-angestiegen-72959.htm